Über die Schulter geschautWas macht ein klinischer Psychologe?

Gerade bei schwerwiegenden Erkrankungen benötigen Betroffene psychologische und psychotherapeutische Unterstützung. Am Clementine Kinderhospital tritt in diesen Fällen das Team unserer Psychologen und Psychotherapeuten auf den Plan. Sie unterstützen Patienten und deren Angehörige in den unterschiedlichsten Ausnahmesituationen. Wir haben ihnen einmal über die Schulter geschaut. Christiane Grundmann

Im bunten Flur der Station C4 sind Ärzte und Pflegekräfte um einen Visitenwagen versammelt. Kinderwagen und Infusionsständer stehen auf dem Gang, Patientenakten liegen auf dem Tisch. Vor jedem Zimmer stoppt die kleine Gruppe und bespricht aktuelle Entwicklungen der jungen Patienten, bevor sie den Raum betritt. Unter ihnen ist heute auch Matthias Heitmann. Als leitender klinischer Psychologe nimmt er einmal in der Woche an der Visite teil, um sich ein Bild über die Fortschritte oder Rückschläge der Patienten zu machen und um neue Patienten kennenzulernen. Auf der Station für neurologische Frührehabilitation am Clementine Kinderhospital werden Kinder und Jugendliche mit neurologischen Beeinträchtigungen behandelt. Bisweilen bleiben sie viele Wochen und Monate. Ein großer Teil der einst gesunden Kinder erlitt durch Unfälle oder Erkrankungen bleibende Hirnschäden – immer ist dies für die ganze Familie ein dramatischer Einschnitt. Am Clementine Kinderhospital werden daher nicht nur die Kinder dahingehend therapiert, dass sie ihren neuen Alltag bewältigen können. Auch die Eltern erhalten Unterstützung bei der Bewältigung der neuen Lebenssituation und werden dabei begleitet, mit den Einschränkungen ihres Kindes einen guten Umgang zu finden.

Bei der Visite auf der neuropädiatrischen Station tauschen sich Ärzte, Pflegekräfte und Psychotherapeuten über aktuelle Entwicklungen der Patienten aus.

So ist es auch bei Finn (Name geändert). Mit seinen 14 Jahren hat er bereits eine Operation wegen eines Hirntumors hinter sich und absolviert gerade eine weitere Chemotherapie. In der neurologischen Frührehabilitation am Clementine Kinderhospital ist er seit einigen Wochen untergebracht, weil er durch seine Erkrankung verschiedene motorische und kognitive Fähigkeiten verloren hat. Hier soll er lernen, mit seinen Einschränkungen umzugehen und sich wichtige Fähigkeiten wieder anzutrainieren. Bei der Visite erfährt Matthias Heitmann unter anderem, dass sich Finn gegenüber seinen Eltern in letzter Zeit zunehmend aggressiv verhält. „Sehr oft sind Kinder und Jugendliche frustriert, wenn eine Therapie nicht so verläuft, wie sie es sich vielleicht erhofft haben“, erklärt Matthias Heitmann.

„Dann suchen sie ein Ventil, um diesen Frust abzubauen. Hinter ihrem Verhalten stecken oft Gründe, die sie selbst nicht erkennen. Unsere Aufgabe als klinische Psychologen ist es, diese im Gespräch zu verstehen.“ Bei einem ersten Kennenlerngespräch mit Finn stellt sich Matthias Heitmann auch seinen Eltern vor. Mit viel Fingerspitzengefühl bietet er ihnen an, dass sie sich an ihn wenden können, falls sie Gesprächsbedarf haben sollten. Finns Eltern wirken offen für ein Gespräch. „Leider ist jedoch nicht allen Eltern bewusst, dass Gespräche auch für sie eine entlastende Funktion haben. Manche fühlen sich bedrängt, wenn wir uns als Psychologen bzw. Psychotherapeuten an sie wenden.“ In diesen Fällen sind die Psychotherapeuten des Clementine Kinderhospitals dann lediglich unterstützend für Ärzte, Pflegekräfte und die begleitenden Therapeuten im Umgang mit den Angehörigen tätig.

„Die Schwierigkeit ist es, den Patienten und ihren Eltern einen einfühlsamen und zugleich realistischen Blick auf ihre Lebenssituation zu geben. Wir dürfen keine zu großen Erwartungen wecken, aber auch keine Hoffnung nehmen, wenn der Therapieverlauf nicht absehbar ist. Das ist ein mitunter schwieriger Balanceakt“, berichtet Matthias Heitmann aus seiner Arbeit mit den Familien.

„Über mehrere Wochen und Monate erfolgt dann in vielen kleinen Schritten der Weg zurück in einen ‚gesunden Alltag‘, in dem die altersangemessene persönliche Entwicklung wieder stattfinden kann.“


Diese Herausforderung stellt sich ihm auch im Anschluss bei der Visite der psychosomatischen Station. Dort sind Jugendliche untergebracht, deren psychische Probleme sich in körperlichen Symptomen äußern. Oft handelt es sich dabei um Essstörungen, Angstzustände, Depressionen oder dissoziative Störungen. In letzteren Fällen haben die jungen Patienten etwa Schmerzen, Ohnmachtsanfälle, Lähmungen oder Sehstörungen, die keine organische Ursache haben, sondern durch eine psychische Beeinträchtigung ausgelöst werden. Mit der leitenden Oberärztin Dr. med. Renate Voll und einem kleinen Team aus Pflegekräften und Erziehern bespricht sich Matthias Heitmann mehrmals in der Woche über die zum Teil seit Monaten stationär behandelten Jugendlichen. Heute geht es vor allem um die Entlassung eines Jungen, der seine hypochondrische Störung erfolgreich unter Kontrolle bekommen hat, um einen Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten, drei Mädchen mit Essstörungen und um die Aufnahme eines neuen Patienten mit übersteigerter Schulangst. Die Kollegen besprechen aktuelle Vorfälle in den Gruppen, legen Maßnahmen zur Alltagsgestaltung fest, beraten, wie sie die Selbstverletzungen unterbinden können und wie sich die Kalorienzufuhr eines schwer magersüchtigen Mädchens steigern lässt.


Nicht nur mit den Patienten, sondern auch mit ihren Eltern führt Matthias Heitmann Gespräche.

Wenn die Jugendlichen auf der psychosomatischen Station aufgenommen werden, sind sie körperlich und psychisch schwer erkrankt, mitunter sogar lebensbedrohlich. Der Aufenthalt dient zunächst ihrer körperlichen und psychischen Stabilisierung. Über mehrere Wochen und Monate erfolgt dann in vielen kleinen Schritten der Weg zurück in einen „gesunden Alltag“, in dem die altersangemessene persönliche Entwicklung wieder stattfinden kann. „Ein großer Schritt ist es, wenn die Jugendlichen ihre psychische Notlage annehmen können. Nur so können sie die richtige Motivation entwickeln, die sie für den Erfolg ihrer Therapie benötigen. Daher ist es ein wichtiger Meilenstein, wenn sie ihre Konflikte benennen können oder erstmals zu ihren Ängsten stehen“, erklärt Matthias Heitmann.

Diese emotionale Stabilisierung ist mitunter ein langwieriger Lernprozess, in den die Eltern intensiv eingebunden werden. „Diese aktive Beteiligung der Eltern ist eine Besonderheit am Clementine Kinderhospital. Doch nur so können die bestehenden Nöte in der Familie in einen notwendigen Veränderungsprozess überführt werden“, erläutert er und ergänzt: „Die meisten Jugendlichen benötigen nach ihrer Entlassung ambulante Hilfe. Psychotherapie oder Jugendhilfemaßnahmen unterstützen sie weiterhin, um ihren Alltag in der Schule oder im mitunter problematischen privaten Umfeld zu bewältigen.“ Dies zu akzeptieren, sei sehr oft eine wichtige Voraussetzung für eine Entlassung aus dem behüteten klinischen Umfeld in das „normale“ Leben.


„Psychologen, Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte verfolgen einen ganzheitlichen Therapieansatz.“

Doch wie gelingt es Matthias Heitmann und den anderen acht klinischen Psychologen und Psychotherapeuten, den Kindern und Jugendlichen am Clementine Kinderhospital den Weg zurück zu einem „gesunden“, altersgerechten Alltag zu weisen? „Grundlage für unsere Arbeit ist eine vertrauensvolle Beziehung. Wir wägen im Team genau ab, wer für den jeweiligen Fall der beste Ansprechpartner sein könnte“, so Matthias Heitmann. Ist die Beziehung hergestellt, basiert die weitere Arbeit mit den Patienten und ihren Angehörigen auf tiefenpsychologischen Ansätzen. In den Gesprächen geben die Patienten oft die Gesprächsthemen vor, so erfahren die Psychotherapeuten, was sie aktuell bewegt, und dringen darüber zu den eigentlichen inneren Konflikten durch. Dadurch erfahren die Patienten auch Selbstwirksamkeit und lernen, ihre Bedürfnisse und Probleme zu verbalisieren. In Einzel- und Gruppengesprächen können sie weiterhin ihre soziale Kompetenz erweitern. Physiotherapie hilft ihnen, ein gesundes Körpergefühl zu entwickeln, um den sich in der Pubertät verändernden Körper anzunehmen.


Mit weiteren Angeboten der Kunst- und Musiktherapie sowie Theatergruppen verfolgt das medizinische und psychologische Team am Clementine Kinderhospital konsequent einen ganzheitlichen Therapieansatz. „Dieser ganzheitliche Behandlungsansatz und der gute Ruf des Krankenhauses bewogen mich, vor acht Jahren zum Clementine Kinderhospital zu wechseln, und ich fühle mich hier immer noch sehr wohl“, erklärt Matthias Heitmann. Zuvor arbeitete der studierte Psychologe und Kinder- und Jugendpsychotherapeut in der Ambulanz einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Südhessen. Dort war er hauptsächlich für die Diagnosestellung zuständig und lernte, schnell einen guten Blick für sein Gegenüber zu gewinnen. Diese Fähigkeit hilft ihm nun bei seiner Arbeit an dem Kinderkrankenhaus im Frankfurter Ostend, denn das Spektrum der Störungsbilder ist facettenreich und die Bandbreite seiner Patienten und Gesprächspartner sehr weit. Genau diese abwechslungsreiche und anspruchsvolle Arbeit begeistert ihn an seiner Tätigkeit.

„Die klinischen Psychologen und die Psychotherapeuten stehen dem Stationsteam auch zur Seite, wenn es gilt, Todesfälle und andere traumatische Situationen im Arbeitsalltag aufzuarbeiten.“

Das Team der Psychologen und Psychotherapeuten am Clementine Kinderhospital umfasst neun Mitarbeiter, darunter drei Ärzte. Gemeinsam mit der leitenden Oberärztin der Psychosomatik, Dr. med. Renate Voll, die auch Psychotherapeutin ist, betreuen sie im Jahr etwa 70 Patienten und deren Angehörige.

Nach der Besprechung auf der psychosomatischen Station schlägt Matthias Heitmann den Weg zur Säuglingsstation ein. Dort ist er mit zwei Eltern verabredet, die mit der Frühgeburt ihres ersten Kindes hadern. Schuldgefühle und Berührungsängste machen es ihnen schwer, eine gute Beziehung zu ihrem kranken Neugeborenen aufzubauen. Das Stationsteam der C2 erkannte rechtzeitig die emotionale Ausnahmesituation der Eltern und informierte Matthias Heitmann. „In solch einem Fall ist es wichtig, dass wir nicht nur regelmäßig mit den Eltern sprechen, sondern das ganze Stationsteam auf diese individuelle Situation einstimmen. Wenn wir dies berücksichtigen, dann können wir den Eltern gemeinsam helfen, die Situation anzunehmen und eine gute Bindung zu ihrem Kind aufzubauen.“ Die klinischen Psychologen und die Psychotherapeuten stehen dem Stationsteam aber auch zur Seite, wenn es gilt, Todesfälle und andere traumatische Situationen im Arbeitsalltag aufzuarbeiten. „Niemand unserer Kollegen soll mit Trauer oder Schuldgefühlen belastet bleiben. Wir suchen gemeinsam Wege, mit schwierigen Situationen umzugehen“, bekräftigt Matthias Heitmann.

Doch wenn man als Psychotherapeut jeden Tag solchen tragischen Fällen begegnet, wie schafft man es, selbst psychisch gesund zu bleiben? Matthias Heitmann versichert, dass er selbst nur sehr selten dramatische Geschichten mit nach Hause nehme. „Die regelmäßige Supervision durch eine externe Supervisorin hilft uns allen, Distanz zu bewahren. Zudem hilft unser guter Zusammenhalt im Team, die Fälle zu reflektieren und den professionellen Blick zu behalten. Wir achten aufeinander.“ Doch heute müssen die Kollegen vorerst noch einen Moment auf ihn warten. Auf der allgemeinpädiatrischen Station wurde ein zehnjähriges Mädchen aufgenommen, das an starken Bauchschmerzen leidet. Bei der Untersuchung konnten die Ärzte keine organische Ursache ausfindig machen. In einem psychologischen Konzil wird Matthias Heitmann daher für eine psychosomatische Einschätzung hinzugezogen.


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  • Ohne Schnitt und mit viel Wärme: Thermoablation in der Schilddrüsenbehandlung
  • Über die Schulter geschaut: Was macht ein klinischer Psychologe?
  • Frankfurter Hebammenschule verdoppelt Zahl ihrer Ausbildungsplätze
  • Wer hätte das gewusst - Fun Facts rund um das Bürger­hospital und das Clementine Kinder­hospital

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